Heiliger Rock


Der „Heilige Rock Jesu“, soll der Legende nach von der heiligen Helena, Mutter des Kaisers Konstantin, nach Trier gebracht worden sein. Tatsächlich hat die 76jährige Kaisermutter Jerusalem wohl im Jahre 326 besucht. Allerdings ist es höchst unwahrscheinlich, dass sie dort die Kleider eines Mannes fand, der, sofern es ihn überhaupt gegeben hat (die historische Existenz Jesu ist noch immer höchst umstritten!), 300 Jahre zuvor hingerichtet worden war.

Erstmals urkundlich erwähnt wurde der Heilige Rock im Jahr 1196 – also geschlagene 800 Jahre nach der vermeintlichen Entdeckung durch Helena und 1100 Jahre nach der vorgeblichen Kreuzigung Jesu. Schon allein deshalb ist die offizielle Sprachregelung des Bistums, die Echtheit des Rocks sei „umstritten“, einigermaßen befremdlich, um es einmal höflich zu formulieren. (Mit gleichem Recht könnte man auch sagen, die Existenz des Ungeheuers von Loch Ness sei „umstritten“.)

Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit handelt es sich beim „Heiligen Rock“ um eine Fälschung des 12. Jahrhunderts. Erzbischof Johann I. soll am 1. Mai 1196 den Hochaltar im damals neu errichteten Ostchor des Trierer Domes eingeweiht und die Reliquie darin einschlossen haben. Für das Trierer Bistum war der Besitz dieser „Herrenreliquie“ von großer Bedeutung – vor allem im Konkurrenzkampf mit der nicht allzu weit entfernten, autonomen Abtei Prüm, dem Hauskloster der Karolinger. Denn die Abtei Prüm besaß mit den „Sandalen Christi“ (nein, dies ist kein Monty Python-Scherz, es handelt sich hier um ein Geschenk des Papstes Zacharias an Pippin III. im Vorfeld der sog. „Pippinischen Schenkung“!) eine der bedeutendsten Reliquien des christlichen Abendlandes.

Mit dem „Rock Jesu“ die „Sandalen Jesu“ zu übertreffen, war zweifellos ein kluger Schachzug des Trierer Bistums, allerdings dauerte es vier weitere Jahrhunderte, bis Trier den Machtkampf gegen Prüm gewann. Nachdem Kaiser Maximilian I. anlässlich des Reichstags 1512 in Trier verlangt hatte, das Gewand Jesu zu sehen, fanden allein im 16. Jahrhundert neun Heilig-Rock-Wallfahrten statt (1513, 1514, 1515, 1516, 1517, 1524, 1531, 1538 und 1545). Durch das Spektakel wuchsen Ansehen und Einfluss des Bistums so sehr, dass die Abtei Prüm im Jahr 1574 ihre Selbständigkeit an Trier verlor – der „Heilige Rock“ hatte sich gegen die „Heiligen Sandalen“ endgültig durchgesetzt.

Wie zu erwarten war, stand der Heilig-Rock-Begeisterung der Katholiken von Anfang an eine ebenso große Heilig-Rock-Empörung der Protestanten gegenüber. Martin Luther brachte es auf den Punkt, als er die Heilig-Rock-Wallfahrt die „große Bescheißerey“, den „Teufelsmarkt zu Trier“, ein „verführlich, lügenhaft und schändlich Narrenspiel“ nannte. Erst im 17. Jahrhundert und 18. Jahrhundert kühlte sich die Debatte um den Heiligen Rock merklich ab – nicht zuletzt auch deshalb, weil die Reliquie in diesem Zeitraum nur zweimal ausgestellt wurde.

Für reichlich gesellschaftlichen Sprengstoff sorgte dann allerdings wieder die Heilig-Rock-Wallfahrt 1844, zu der eine Million Pilger nach Trier kamen. Diese Wallfahrt war nicht nur der Auslöser für die Niederschrift des berühmten „Pfaffenspiegel“ von Otto von Corvins, sondern rief auch innerhalb des katholischen Spektrums starken Widerstand hervor. So schrieb der Priester Johannes Ronge 1844 einen Protestbrief an den Bischof von Trier, in dem er den „Götzendienst“ anprangerte, der mit der Wallfahrt zu der Reliquie geleistet würde, was zunächst zu seiner Exkommunikation und später zur Gründung der Deutschkatholischen Kirche führte, aus der letztlich die freireligiöse (und zum Teil auch die freidenkerische) Bewegung hervorging. (Erstaunlich, aber wahr: Dass sich die Religionskritik in Deutschland etablieren konnte, ist auch dem Trierer „Narrenspiel“ zu verdanken…)

Der Trierer Bischof Bornewasser beim Hitlergruß
mit Frick und Goebbels
Die größte Heilig-Rock-Wallfahrt aller Zeiten, zu der über 2 Millionen Pilger nach Trier kamen, fand bezeichnenderweise im „Heiligen Jahr 1933“ statt („Heiliges Jahr“ wegen der 1900-Jahresfeier der angeblichen Kreuzigung und Wiederauferstehung Jesu). Kurz nach dem Abschluss des Reichskonkordats zwischen dem Vatikan und Nazideutschland wurde diese Wallfahrt zu einer unübersehbaren Demonstration des Schulterschlusses zwischen NSDAP und Katholischer Kirche (die sich schon zuvor gezeigt hatte, als der Trierer Prälat und Vorsitzende der katholischen Zentrumspartei, Ludwig Kaas, Hitler die Stimmen für das Ermächtigungsgesetz besorgte). Und so war 1933 in Trier eine große Harmonie zwischen Klerus und NS-Regime zu beobachten: Bischöfe salutierten vor dem Heiligen Rock mit dem Hitlergruß, während die Braunhemden von der SA „viel ehrenamtliches Engagement“ zeigten, indem sie mit ihren Blaskapellen fromme Choräle intonierten und als Wallfahrts-Ordnungskräfte die Pilgerströme zur Reliquie leiteten.

Heiliger Rock im Heiligen Jahr 1933
(alte Postkarte)
Seit diesem Wallfahrts-Höhepunkt im Heiligen Jahr 1933 sind die Pilgerströme kontinuierlich zurückgegangen. Bei der „Wirtschaftswunder-Rock-Wallfahrt 1956“ kamen noch 1,8 Millionen Pilger, bei der letzten Wallfahrt 1996 waren es gerade einmal 700.000. Wie viele werden es zur „After-Missbrauchsskandal-Wallfahrt 2012“ sein? Das Trierer Bistum rechnet mit etwa 500.000 Pilgern – darunter erstmalig auch ganze Busladungen von Protestanten, die – ohne Vorbild in der Geschichte! – von ihren Kirchenleitungen zur Wallfahrt motiviert wurden. Offenbar sind Luthers Worte über die „Bescheißerey zu Trier“ in evangelischen Kreisen mittlerweile vergessen. Heilig’s Röckle! Ist denn den Protestanten so gar nichts mehr eklig?